OT: Acciaio, Italien 2010, D 2011, Klett-Cotta
Für jemanden wie mich, aufgewachsen im eher kühlen Deutschland, bei bürgerlichen Eltern, die mit 13 lieber auf dem Baum saß und Jungs nicht nur doof fand, sondern eigentlich gar nicht wahrnahm, ist die Welt, in der Anna und Francesca, zwei 13-jährige, höchst attraktive Mädchen, leben, wie ein anderer Stern. Die beiden sind beste Freundinnen, so lange sie denken können und leben in der Via Stalingrado in Piombino, einer Arbeitersiedlung, wo Männer Männer sind, und Frauen nur zum Vögeln, Heiraten und Kinderkriegen da sind. Frauen haben nichts zu melden und kriegen schon mal eine gelangt, Mädchen brauchen keine Ausbildung und die Jungs sind tagsüber in der Stahlfabrik und pfeifen sich abends den Koks rein oder klauen eine Runde Kupferkabel. Es kommt einem vor, als wäre das 20. Jahrhundert an dieser Welt völlig vorbeigerauscht: Gleichberechtigung, Emanzipation, Bildung, Zukunft, alles Fremdworte. Direkt vor der Tür von Piombino liegt Elba, das Refugium für reiche Touristen, ein unerreichbares Paradies.
Für Anna und Francesca gibt es keine wirkliche Zukunft. Sie werden sich gerade ihrer Sexualität und Attraktivität bewusst und setzen dies auch ein. Ihr Ziel ist es, einen gutaussehenden Jungen zu bekommen und Spaß mit ihm zu haben. Wesentlich weiter denken sie nicht. Als 50jährige liest man das und will dauernd mahnen: Nein, macht das nicht! Aber es ist, wie es ist.
Doch etwas fällt aus dem Rahmen. Zwischen den beiden Mädchen keimt etwas auf, das nicht der Norm entspricht. Und als die eine sich von der anderen verraten fühlt, geht alles zunächst in die ganz falsche Richtung.
Italien war literarisch für mich gar nicht vorhanden. Klar habe ich mit 15 oder so das Decamerone, später „Don Camillo und Peppone“ und noch später die Eragon-Bücher (ganz andere Richtung, ich weiß) gelesen, aber sonst war Italien schlicht nicht da. (Donna Leon zählt nicht, sie ist Amerikanerin.) Dieser Roman zeigt, dass das eine Fehleinschätzung war. Die Geschichte der beiden Freundinnen, die Welt, in der sie leben, wird schonungslos und dennoch einfühlsam, aber keinesfalls kitschig, dargestellt. In die Gefühle kann man sich gut hineinversetzen (indem man sich erinnert), aber ich bin froh, dass ich nicht so leben muss. Die Autorin ist vom Alter her nicht so sehr weit von ihren Protagonistinnen entfernt, daher kommen die Gefühle echt rüber, nicht gekünstelt. Und obwohl sie noch so jung ist, ist ihre Sprache sehr ausdrucksstark, ganz besonders in den Beschreibungen des Stahlwerks.